Uroš und die Mrnjavčevičen
Vier Heerlager stehn sich gegenüberAuf dem schönen weiten Amselfelde,Bei der weißen Kirche Samodreža:Eins ist Vukašins, des Königs Lager,Des Despoten Uglješa das zweite,Des Vojvoden Gojko ist das dritte,Und des Prinzen Uroš ist das vierte.Um die Herrschaft streiten sich die Fürsten,Trachten gar, einander umzubringen,Mit den goldnen Messern zu erstechen,Uneins sind sie, wem die Herrschaft zusteht.König Vukašin spricht: "Sie steht mir zu!"Der Despot Uglješ’: "Nein, sie steht mir zu!"Der Vojvode Gojko: "Sie steht mir zu!"Doch es schweigt der schwache Knabe Uroš,Ja, es schweigt das Kind, es spricht kein Wörtchen,Es getraut sich nicht vor den drei Brüdern,Den drei Brüdern, drei Mrnjavčevičen.Einen Brief schreibt Vukašin, der König,Schreibt den Brief und sendet einen BotenNach Stadt Prizren, nach der weißen Feste,Sendet ihn zu jenem Propst Nedeljko,Daß er nach dem Amselfelde kommeUnd er sage, wem die Herrschaft zusteht:Sterbend hat bei ihm der Zar gebeichtet,Hat von ihm das Abendmahl empfangen,Er verwahrt bei sich die alten Bücher.Einen Brief schreibt der Despot Uglješa,Schreibt den Brief und sendet einen BotenNach Stadt Prizren, nach der weißen Feste,Sendet ihn zu jenem Propst Nedeljko.Einen dritten Brief schreibt Herzog GojkoUnd entsendet einen schnellen Boten;Einen vierten Brief, den schreibt Prinz Uroš,Schreibt den Brief und sendet einen Boten.Alle vier, sie schreiben feine BriefeUnd entsenden ihre schnellen Boten,Jeder tut es heimlich vor dem ändern.Die vier Boten trafen nun zusammenIn Stadt Prizren, in der weißen Feste,An dem Sitz und Hof von Propst Nedeljko.Doch der Propst, der weilte nicht zu Hause,Sondern war beim Frühamt in der Kirche,War beim Frühamt, bei der heil'gen Andacht.So gewaltig sind die schnellen Boten,So gewaltig, Diener der Gewalt'gen,Daß sie von den Pferden nicht absaßen,Sondern diese in die Kirche trieben!Sie ergriffen die geflochtnen Peitschen,Und sie schlugen ein auf Propst Nedeljko:"Komm geschwind, du unser Propst Nedeljko,Komm geschwind zum ebnen Amselfelde,Daß du aussprichst, wem die Herrschaft zusteht;Sterbend hat bei dir der Zar gebeichtet,Hat von dir das Abendmahl empfangen,Du verwahrst bei dir die alten Bücher;Komme, oder du verlierst dein Leben!"Tränen weinte da der Propst Nedeljko,Weinte Tränen, und er sprach zu ihnen:"Setzt zurück, Gewalt'ge der Gewalt'gen,Bis wir hier den Gottesdienst beenden,Wird man wissen, wem die Herrschaft zusteht."Und so wichen sie zurück, die Boten.Als man dann den Gottesdienst beendetUnd die Menschen aus der Kirche strömten,Redete der greise Propst Nedeljko:"Meine Kinder, ihr vier mächt'gen Boten,Sterbend hat bei mir der Zar gebeichtet,Hat von mir das Abendmahl empfangen,Doch ich fragte ihn nicht nach der Herrschaft,Sondern nach von ihm begangnen Sünden.Aber reitet nach der Feste PrilipZu dem Hof des Königssohnes Marko,Ja, zu Marko, meinem alten Schüler.Er erlernte bei mir Schrift und Lesen,Und dem Kaiser diente er als Schreiber;Er verwahrt die uralt-alten Bücher,Und er weiß es, wem die Herrschaft zusteht.Ladet Marko nach dem Amselfelde,Marko w ird die reine Wahrheit sagen,Denn es furchtet Marko sich vor niemand,Niemand außer dem wahrhaft'gen Herrgott."Es begaben sich hinweg die Boten,Sie begaben sich zur Feste Prilep,Zu dem Hof des Königssohnes Marko.Als sie an den weißen Hof gekommen,Pochten sie ans Haustor mit dem Klopfer.Dies vernahm die Mutter Jevrosima,Und sie rief den Sohn herbei, Prinz Marko:"Lieber Marko, du mein teurer Junge,Horch, wer pocht ans Haustor mit dem Klopfer?Scheint mir so, als seien's Vaters Boten."Es erhob sich Marko, schloß das Tor auf,Und es neigten sich vor ihm die Boten:"Gott sei mit dir, Herr Gebieter Marko!"Marko streichelte sie mit den Händen:"Seid willkommen, meine lieben Kinder!Sind noch alle Serbenritter munterUnd die Fürsten und die Kön'ge tüchtig?"Es verneigten sittsam sich die Boten:"Herr Gebieter, Königssohn Prinz Marko,Munter sind sie alle, doch nicht friedlich:Schwer entzweiten sich die hohen HerrenAuf dem Amselfeld, der weiten Ebne,Bei der weißen Kirche Samodreža;Und sie streiten sich dort um die Herrschaft;Trachten gar, einander umzubringen,Mit den goldnen Messern zu erstechen;Uneins sind sie, wem die Herrschaft zusteht.Dich bestellen sie zum Amselfelde,Daß du aussprichst, wem die Herrschaft zusteht."Marko ging zurück ins Hofgebäude,Und er rief die Mutter Jevrosima:"Jevrosima, meine liebe Mutter,Es entzweiten sich die hohen HerrenAuf dem Amselfeld, der weiten Ebne,Bei der weißen Kirche Samodreža,Und sie streiten sich dort um die Herrschaft,Trachten gar einander umzubringen,Mit den goldnen Messern zu erstechen,Uneins sind sie, wem die Herrschaft zusteht;Mich bestellen sie zum Amselfelde,Daß ich sage, wem die Herrschaft zusteht."Wenn auch Marko nach der Wahrheit strebte,Bat ihn dennoch Mutter Jevrosima:"Marko, Sohn, du einziger der Mutter,Möge meine Milch dir nicht zum Fluch sein,Rede du, o Sohn, nicht falsch und unwahr,Nach dem Vater nicht, noch nach den Onkeln,Sondern nach der reinen Wahrheit Gottes!Sohn, verliere nicht das Heil der Seele!Besser ist's, das Leben einzubüßen,Als mit Schuld die Seele zu beladen."Marko nahm die uralt-alten Bücher,Machte sich bereit sowie den Šarac,Warf sich seinem Šarac auf die Schultern,Und sie zogen nach dem Amselfelde.Als sie nah dem Zelt des Königs waren,Redete nun Vukašin, der König:"Ach, wohl mir, bei meinem lieben Herrgott!Sieh, da kommt mein teurer Sohn, der Marko:Spricht gewiß, daß mir die Herrschaft zusteht,Und vom Vater wird der Sohn sie erben."Marko hörte es und sprach kein Wörtchen,Wandte seinen Kopf nicht nach dem Zelte.Als Vojvode Uglješ' ihn erblickte,Redete nun Uglješa die Worte:"Ach, wohl mir, da kommt mein Neffe,Spricht gewiß, daß mir die Herrschaft zusteht,Marko, sag, daß mir die Herrschaft zusteht,Und wir herrschen brüderlich gemeinsam!"Marko schwieg, er redete kein Wörtchen,Wandte seinen Kopf nicht nach dem Zelte.Als Vojvode Gojko ihn erblickte,Redete nun Gojko diese Worte:"Ach, wohl mir, da kommt mein Neffe,Spricht gewiß, daß mir die Herrschaft zusteht.Denn als Marko noch ein schwaches Kind war,Da liebkoste ich den Marko zärtlich,Barg ihn an der Brust in weicher SeideAls wie einen schönen goldnen Apfel,Und wohin ich immer auch geritten,Nahm ich Marko mit mir auf sein Bitten.Marko, sag, daß mir die Herrschaft zusteht,Dann sollst du als erster von uns herrschen,Und ich sitze dir zu deinen Knien!"Marko schwieg, er redete kein Wörtchen,Wandte seinen Kopf nicht nach dem Zelte.Er begab zum weißen Zelt sich weiter,Zu dem Zelt des schwachen Knaben Uroš,Trieb das Pferd heran zum Zelt des Herrschers,Und dortselbst saß Marko ab vom Šarac.Als der Knabe Uroš ihn erblickte,Sprang er munter auf vom seidnen Kissen,Munter sprang er und begann zu reden:"Ach, wohl mir, da kommt mein lieber Pate,Kommt mein Pate Königssohn Prinz Marko!Er wird sagen, wem die Herrschaft zusteht."Offner Arme nahten sie einander,Küßten freundlich sich aufs weiße Antlitz,Sie befragten sich nach der Gesundheit,Und sie setzten sich auf seidne Kissen:So hat es nur kurze Zeit gedauert,Es verging der Tag, die dunkle Nacht kam.Als frühmorgens dann der Morgen anbrachUnd die Kirchenglocken laut ertönten,Kamen alle edlen Herr'n zum Frühamt.In der Kirche ward der Dienst beendet,Und sie strömten aus der weißen Kirche,Setzten vor der Kirche sich an Tische,Und sie aßen Zucker, tranken Branntwein.Marko nahm die uralt-alten Bücher,Las darinnen und begann zu sprechen:"O mein Vater, Vukašin der König,Reicht dir nicht die eigne Königsherrschaft?Reicht sie nicht - sie möge dir veröden! -Daß um fremde Herrschaft ihr euch streitet?Du, mein Onkel, o Despot Uglješa,Reicht dir nicht dein eigenes Despottum?Reicht es nicht - es möge dir veröden! -Daß um fremde Herrschaft ihr euch streitet?Du, mein Onkel, o Vojvode Gojko,Reicht dir nicht die eigene Vojvodschaft?Reicht sie nicht - sie möge dir veröden! -Daß um fremde Herrschaft ihr euch streitet?Seht ihr denn nicht - mag euch Gott nicht sehen!Seht, hier heißt es: Uroš steht das Reich zu!Es ist ihm vom Vater überkommen,Kraft Geburt gehört dem Kind die Herrschaft,Ihm hat sie der Kaiser übertragen,Auf dem Sterbebett, eh' er verschieden."Als dies König Vukašin vernommen,Sprang er von dem Sitze auf die Füße,Und er zückte seinen goldnen Säbel,Um den Sohn, den Marko, zu erstechen.Marko floh dahin vor seinem Vater,Weil es, Bruder, nicht dem Sohne ansteht,Mit dem eignen Vater sich zu schlagen.Marko floh rings um die weiße Kirche,Um die weiße Kirche Samodreža,Marko floh, und ihn verfolgt' der König,Bis sie dreimal dort den Kreis vollendetUm die weiße Samodreža-Kirche.Marko ward fast eingeholt vom König,Doch da rief es aus der weißen Kirche:"In die Kirche, Königssohn Prinz Marko!Andernfalls w irst du noch heute fallen,Fallen von der Hand des eignen Vaters,Für die Wahrheit des lebend'gen Gottes!"Hiernach tat sich auf die Kirchenpforte,Marko floh nun in die weiße Kirche,Und es schloß sich hinter ihm die Pforte.Doch der König stürmte zu der Türe,Und er stieß den Säbel in den Pfosten.Aus dem Pfosten tropfte Blut herunter.Da bereute Vukašin, der König,Und hob an und redete die Worte:"Weh m ir Armem, bei dem einen Herrgott,Daß ich Marko, meinen Sohn, erschlagen!"Doch da rie f es aus der weißen Kirche:"Aber höre, Vukašin, о König!Du erstachst nicht deinen Erben Marko,Sondern du erstachst den Engel Gottes."Da erfaßte schwerer Zorn den König,Daß er Marko schalt und w ild verfluchte:"Marko, Sohn, о daß dich Gott erschlage!Mögst du weder Grab noch Nachwuchs haben!Möge dir die Seele nicht entweichen,Ehe du gedient dem Türkenkaiser!"Flucht der König, so segnet der Kaiser:"Pate Marko, daß dich Gott beschütze!Dein Gesicht, es strahle hell im Rate!Und dein Säbel schneide gut im Kampfe!Über dir, da finde sich kein Recke!Und dein Name sei in aller Munde,Rings, solange Mond und Sonne scheinen!"Was sie sagten, ist ihm widerfahren.
Übersetzt von Stefan Schlotzer